Der kranke Sonntag

 

 „Du bist dran!“ „Hallo, Sonntag, du bist dran!“ Verstört schreckte Sonntag aus seinem wöchentlichen Schlaf auf. Schweißgebadet, entkräftet saß er aufrecht im Bett. Am liebsten hätte er sich unter der Bettdecke verkrochen. Doch das ging nicht. Er musste seinen Dienst antreten, ob er konnte oder nicht. Langsam stand er auf. Seine Knie waren weich wie Gelatine.

„Du bist dran“, schallte es wieder von draußen herein. Mühsam schleppte sich Sonntag zur Tür, die von Samstag plötzlich aufgerissen wurde. Erschrocken zuckte dieser zurück, als er seinen Bruder Sonntag ansah. „Du siehst bedauernswert aus.“

„Ich weiß.“

„Geh zum Arzt und lass dich untersuchen.“

„War ich. Er kann mir nicht helfen.“

„Wieso nicht?“

„Meine Krankheit ist ein seelisches Problem.“          

„Weswegen hast du seelische Probleme? Du bist doch der Sonntag. Ein Ruhetag. Ein Tag der Besinnung, des Nichtstuns. Wir Wochentage dagegen werden rücksichtslos vermarktet, vergewaltigt mit allen Möglichen und Unmöglichen tun der Menschen.“

„Nicht nur du. Nicht nur du. Wenn es möglich wäre und du zu mir kommen könntest, dann würdest du sehen was die Menschen aus mir gemacht haben.“

„Ist es so schlimm?“

„Noch schlimmer.“

Von der nahen Turmuhr erklang der erste Glockenschlag von zwölf. Mitternacht. Sonntag eröffnete den Tag. Samstag war verschwunden in seine Unterkunft. Die sieben Tage, es

konnte gesagt werden, die sieben Brüder, und das waren sie, wohnten dicht beieinander. Sie lebten abgelegen von  allem,

was sie stören könnte, auf einer wunderbaren  kleinen  Insel,

auf der kreisförmig ihre bescheidenen Häuschen standen. Sie wohnten dort und jeder verbrachte sechs Tage darin zu , in absoluter Ruhe, bis der Dienst wieder begann. Beschützt wurden sie, von ihren Onkeln, den Monaten, die sie unter Kontrolle hielten.

Der Einzige, der sich nicht erholte und immer kränklicher aussah, war Sonntag. Die Brüder machten sich Gedanken, was werden soll, wenn Sonntag ganz ausfällt. Sie redeten und redeten. Es war ein unvorstellbares Stimmengewirr. Keiner verstand den anderen. Mittwoch war es leid und unterbrach den Redestrom mit einem Lautem: „Ruhe! Ruuhe!“ Sofort wurde es ganz ruhig. So ruhig, als wären alle festgefroren.  

„Mit eurem Durcheinander was ihr sprecht kann dem Sonntag auch nicht geholfen werden“, fuhr Mittwoch fort.

Dienstag räusperte sich verhalten und meldete sich zu Wort: „Wie wir alle wissen, ist Sonntag ein Tag der Ruhe und Er­holung für die Menschen. Sie sollten Zeit haben und nicht wie an uns Wochentagen der Hektik verfallen.“

„Recht hast du“, sagte Freitag. Und Donnerstag meinte: „Mach das den Menschen verständlich. Sie sind so un­belehrbar geworden, dass es, einem dabei übel, wird.“

Dienstag der da saß als ginge ihm das alles nichts an, erhob sich überraschend, um sich zur Ruhe zu begeben.       

„Halt! Hier geblieben! Wir sind noch nicht fertig“, rief ihm Montag zu.

„Die ganze Diskussion bringt überhaupt nichts und macht Sonntag auch nicht gesund. Solange der Mensch keine Ein­sicht gewinnt, wird unser Bruder Sonntag nicht gesun

werden. Er wird dahin siechen und er wird unrettbar verloren sein.“

Montag, der diesmal den Vorsitz hatte, beschloss die Sitzung.

Es kehrte wieder Ruhe ein auf der kleinen Wocheninsel. Nur Sonntag befürchtete wieder einen  sehr  unruhigen  Tag.  Ihm    

wurde noch schlimmer zumute.  Tränen der Verzweiflung flossen   über seine schmalen eingefallenen Wangen, wo sie sich unter dem Kinn verloren. Er war zu schwach seine Ärmchen zu heben, damit er die Wasserflut abwischen konnte. Klapprig und abgemagert ließ er seinen Tag erwachen und machte sich so seine Gedanken:

Früher als die Menschen noch nicht so selbstherrlich, dreist und unverschämt waren da war die Welt noch in Ordnung. Was war ich für eine kraftvolle und wichtige Erscheinung. Die Menschen wussten mich zu schätzen. Sie liebten mich und sehnten mich herbei nach einer arbeitsreichen Woche.

Was ist heute? Die Arbeitszeit wurde immer kürzer. Die Freizeit wurde immer mehr. Die Vorfreude auf mich erlosch unaufhörlich. Ich werde fast wie ein alltäglicher Tag behandelt. Stimmen wurden laut, damit die Geschäfte an meinem Tag auch geöffnet sind, um den Kaufrausch zu befriedigen. Damit verliere ich unaufhörlich an Ehre und Wertschätzung und sogar meine Daseinsberechtigung.

„Hallo Sonntag“, schreckte ihn eine glockenhelle Stimme aus seinen herzergreifenden Gedanken. „Du bist auch nicht mehr der du einst warst. Ich habe dich lange nicht gesehen da die Wolken mich daran gehindert haben zur Erde zu blicken.“  

Seine ganze Kraft nahm Sonntag zusammen und schaute auf. Ein Lächeln legte sich auf sein gequältes Gesicht, als er sah, wer zu ihm sprach. Es war Sonnenschein. Eine innerliche

Wärme erfüllte Sonntag mit einem freudigen angenehmen Gefühl. „Du bist es mein Freund. Schon geht es mir ein Bisschen besser. Du bist meine Kraft, du erhältst mich am leben. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“ Und mitfühlend sagte Sonnenschein: „Ganz anders ist meine Erinnerung an dich. Fröhlich, lustig voller Unternehmungslust. Mit roten Wangen und strahlenden Augen. Doch wenn ich dich ansehe, bekomme ich Herzklopfen und Magenschmerzen. So nimmt mich dein Befinden mit. Ein Schatten deiner selbst bist du nur noch.“

„Ich bin fix sind fertig. Meine Tage sind gezählt.“

„Weshalb?“

Sonntag erzählte ihm, was alles durch seinen Kopf jagte und wie es mit der Menschheit aussah.   

„Ist das alles.“

„Nein.“

„Erzähle. Ich höre.“

„Wenn ich da war, konnten die Menschen ausspannen, ausschlafen. Sie gingen spazieren, bewunderten die herrliche Natur. Der Kirchgang, der Gottesdienst war das Größte an meinen Tag. Der Seele Hunger, und, Durst wurde gestillt. Und was ist heute?“

„Was ist heute?“, ertönte Sonnenscheins fragende Stimme wie ein Echo.

„Ich werde nicht mehr anerkannt. Die Menschheit zermürbt und vernichtet mich. Sie wissen überhaupt nicht mehr, für was es mich gibt. Ein Werktag soll ich werden. Dabei wird nicht mehr daran gedacht, dass Gott die Erde in sechs Tagen erschaffen hat und am siebten Tag sich ausruhte. Ich, Sonntag, wurde dazu auserkoren, als Ruhe- und Erholungstag. Beten, glauben, ruhen sind Fremdwörter geworden. Die Menschheit hat sich versklavt. Sie hat ihre Freiheit  verloren. Es gilt nur noch: Rennen, Hetzen  den  Tag ohne  Besinnung

vergeuden.“Schnaufend beendete der Sonntag seine Anklagen. Er hatte sich total verausgabt. Und was noch trostloser war, der Sonnenschein wurde immer schwächer. „Hallo Sonnenschein, wo willst du hin? Verlässt du mich auch?“

„Ich muss weiter. Es schon Abend. In einer Woche sehen wir uns wieder, wenn keine Wolken meinen Besuch verhindern. Ich wünsche dir alles Gute. Hoffentlich kommt die Menschheit wieder zur Besinnung und erkennt dich als den Tag, der du bist, wieder an.“

„Deine Worte in Gottes Ohr.“

Jedoch der Sonnenschein hörte es nicht mehr. Sein Licht ver-

schwand, als wäre es nie da gewesen. Sonntag hatte bald Feiererabend. Er konnte sich kaum noch halten. Aufstöhnend flüsterte er: „Bald wird es mich nicht mehr geben. Ich werde nur noch eine Legende sein.“    

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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